Krieg
Die Auswirkungen des Kriegsausbruches 1939 machten sich im Generalkonsulat auf recht andere Art bemerkbar als auf dem Hamburger Fischmarkt. Den ganzen Sommer hindurch waren Touristen aus Amerika zu Studienreisen oder Verwandtenbesuchen nach Europa eingeströmt. Als sich mit fortschreitender Jahreszeit die allmähliche Krisis zuspitzte, machten wir den Reisenden immer deutlichere Anspielungen, um sie zur Umkehr zu veranlassen, ehe es zu spät war. In den letzten Augusttagen empfingen wir jedes Schiff bereits im Hafen und versuchten, die Ankommenden von den Gefahren einer Weiterreise zu überzeugen. Aber in Zeiten offensichtlichen Friedens lassen sich die Amerikaner nicht leicht von ihren Konsuln überreden.
»Die Kriegspsychose ist eine Erfindung Chamberlains«, meinten einige geringschätzig.
Andere, die politisch weniger genau im Bilde waren, sagten schlicht: »Quatsch!«
Sowie aber am ersten September der Polenkrieg ausbrach, änderte sich die Melodie schlagartig. Wir brauchten nicht mehr in den Hafen zu gehen, um sie zu treffen. Sie kamen freiwillig und gleich zu Hunderten ins Konsulat.
Zuerst fragten sie nur um Rat. Sie erhielten ihn unverblümt:
»Fahren Sie zurück — und zwar sofort!«
Selbst dann noch zögerten einige: »Ach was, das ist so’n Bluff von diesen gottverdammten europäischen Politikern. Die wollen uns ins Bockshorn jagen. Die Engländer werden gar nicht kämpfen. In zehn Tagen ist der Krieg vorbei.« Wir hatten allen Grund, die Sache anders zu sehen. Der englische Konsul kam zu uns und teilte uns mit, London werde uns nach Englands Kriegseintritt bitten, den Dienst für sie mitzuversehen. Um auf alle Fälle sicherzugehen, brachte er uns sein Geld und seine Kontobücher, sein Inventarverzeichnis und seine Schlüssel und ging nach Hause, um alles Weitere abzuwarten.
»Worin wird denn unsere offizielle Beglaubigung bestehen?« fragten wir ihn noch schnell vor dem Fortgang.
»Sie werden ein Telegramm des Foreign Office in London bekommen, in dem >warone< steht, sonst nichts. Das ist Ihre Beglaubigung. Antworten Sie mit dem Codewort >wallup<. Von diesem Augenblick an sind Sie auch britisches Konsulat.«
Es klang geschäftsmäßig und war eine angenehm kurze Prozedur, die sich vorteilhaft von unseren eigenen Methoden abhob. Als zwei Jahre später Pearl Harbour angegriffen wurde, saß ich mit unserer Botschaft in Kuibyschew. Die Nachricht vom Angriff und der folgenden Kriegserklärung hörten wir schon wenige Stunden später im Rundfunk. Dreizehn Tage hinterher erst erhielten wir das offizielle, drei Seiten lange Telegramm aus Washington, in dem der Kongreßbeschluß über die Kriegserklärung Wort für Wort wiederholt wurde. Ich persönlich hielt das britische System für besser.
In den zwei Tagen nach dem Überfall auf Polen passierte nichts. Das heißt: nichts in bezug auf das Londoner Telegramm. Abgesehen davon ging es im Hamburger Konsulat zu wie in einem Bienenkorb. Statt der üblichen fünfzig Besucher täglich kamen nun tausend. Draußen wurden die letzten Luftschutzmaßnahmen geprobt. Deutsche Kampfflugzeuge patrouillierten über unseren Köpfen. Sooft es ihnen oben in der Luft langweilig wurde, machten sie einen Sturzflug, der, wie mir vorkam, jedesmal auf meinen Kopf gezielt war.
Der Kapitän eines kleinen amerikanischen Frachtschiffes kam an den Schaltertisch, hinter dem Vizekonsul Thayer auf einem hochgeschraubten Drehstuhl thronte. Was er tun
solle?
»Bringen Sie Ihr Schiff aus der Elbe, aber schleunigst!«
Ein wütender Klient mit kräftiger Ausdrucksweise boxte sich vor: »Der Konsul in Breslau hat gesagt, in vierundzwanzig Stunden gäb’s Krieg, und er hat mir auch gesagt, ich soll abfahren. Jetzt sind schon zwei Tage vorbei, und noch immer ist nichts passiert! Ich weiß genau, daß es überhaupt keinen Krieg gibt. Ich verlange das Geld für eine Rückfahrkarte nach Breslau!«
So höflich, wie es unter diesen Umständen nur möglich war, riet ich ihm, sich gefälligst zum Satan zu scheren.
Eine alte Dame mit einem halben Dutzend Kinderchen kam als nächste vor.
»Mein Mann hat von Amerika telegrafiert, wir möchten Sie fragen, was wir tun sollen.«
»Zu ihm fahren«, sagte ich.
Ein Kollege reichte mir einen Haufen Telegramme aus Washington. »Alles erkundigt sich nach Tante Lieschen...«, flüsterte er mir grinsend zu.
Plötzlich tauchte Yang mit einem Tablett voll Essen vor meinem Schaltertisch auf. Ich war seit fast zwanzig Stunden ohne Unterbrechung tätig, und er war mir jetzt herzlich willkommen.
Die Stukas oben fingen wieder an, heulend auf uns niederzusausen. Mir rann es kalt über den Rücken...
Der Telefonist rief quer durch den Raum: »Das Konsulat in Kopenhagen möchte gern wissen, wie viele Amerikaner heute abend aus Hamburg zu erwarten sind.« Ich sah auf die Listen vor mir.
»Einhundertsiebenundzwanzig, falls der letzte Bus überhaupt noch durchgelassen wird.«
Ein kampflustiger kleiner Kunde schaukelte, mit den Armen schlenkernd, herein. Ich erkannte einen von jenen wieder, denen ich erst in der vergangenen Woche abgeraten hatte, an Land zu gehen.
»Das is’n verdammt unerhörtes Benehmen«, tobte er los, »die Regierung kann uns schließlich nicht so einfach hier ‘rumliegen lassen! Die müssen uns’n Schlachtschiff ‘rüberschicken, verflucht noch mal!« Ich schlug ihm vor, er solle sich eins von den Deutschen pumpen.
Ein anderer hielt uns eine stundenlange, feierliche Vorlesung über die Schändlichkeit Chamberlains: »Es wird keinen Krieg geben, sage ich Ihnen — ich weiß es bestimmt! Chamberlain versucht nur, uns einen Schrecken einzujagen, und Sie stecken mit ihm unter einer Decke!« über die Köpfe der Wartenden hinweg erspähte ich einen der britischen Vizekonsuln. Er schwenkte ein Telegramm. »warone« stand darauf.
Durch den Lärm der Menschen und Stukas brüllte ich ihm einen Glückwunsch zu. Dann ließ ich vom Bürodiener auf dem Anschlagbrett draußen eine Notiz anheften, die den Kriegszustand zwischen Deutschland und England bekanntgab.
Die Menge im Konsulat löste sich nach und nach auf, und es begann dunkel zu werden. Licht durften wir nicht machen, weil wir einfach noch nicht dazu gekommen waren, Verdunkelungsvorhänge anzubringen. Ich ging in den Waschraum (der als einziger keine Fenster hatte) und skizzierte den telegrafischen Tagesrapport nach Washington. Mitten in meine Arbeit hinein läutete die Haustürglocke. Ich ließ mich nicht stören.
Als ich die Depesche glücklich fertig hatte, klingelte es draußen noch immer.
Ich ging zur Tür und öffnete sie ungeduldig.
Ein etwas aufgelöster junger Mann stand davor.
»Kann ich den Generalkonsul sprechen?« fragte er bescheiden.
»Verflixt, nein!« antwortete ich wütend, »außer mir sind alle längst weg, und dienstlich ist das Konsulat sowieso bis morgen früh geschlossen. Kommen Sie gefälligst dann wieder.«
»Aber ich habe den Auftrag, mich sofort nach meiner Ankunft beim Generalkonsul zu melden.«
»Ihre Aufträge sind mir verdammt piepe! Kommen Sie morgen früh wieder! Und überhaupt: Wer hat Ihnen denn gesagt, Sie sollten sich beim Generalkonsul melden?«
»Der Staatssekretär, Sir«, flüsterte der junge Mann schüchtern, »ich bin soeben aus Washington angekommen.«
»Ja, was, zum Teufel, bildet sich denn dieses Washington ein?« explodierte ich. »Wir haben von morgens bis abends alle Hände voll zu tun, möglichst jeden noch rechtzeitig nach Hause zu expedieren, und das State Department fängt an, uns lustige Leute nach hier zu schicken! Wer sind Sie denn überhaupt?«
»Es tut mir schrecklich leid, Sir, aber ich bin der neue Vizekonsul.«
Immer noch ungnädig knurrend, ließ ich ihn ein und bat ihn, zu warten, bis ich mit dem Verschlüsseln des Telegramms fertig sei. Dann fragte ich ihn: »Wo sind Sie abgestiegen? Hoffentlich nicht im Stadtzentrum. Die Engländer können jeden Augenblick damit beginnen, den Bahnhof zu bombardieren.« (Wir ahnten natürlich nicht im entferntesten, daß die Engländer keinen einzigen gebrauchsfertigen Bomber besaßen und auch in den nächsten Jahren nicht besitzen würden.)
»Oh —und ich wohne ausgerechnet im Bahnhofshotel! Vielleicht sollte ich umziehen?«
Ich fuhr ihn zum Bahnhofshotel, holte seinen Koffer und nahm ihn für die Nacht mit zu mir. Als ich im folgenden Jahr versetzt wurde, war er noch da.
Mitten in der Nacht rasselte das Telefon. Das Telegrafenamt teilte mir mit, daß alle Telegramme, die wir am vergangenen Tag aufgegeben hatten, von der Zensur gestoppt worden seien. Nun waren sie zum Glück nicht wichtig — bis auf zwei nach Rotterdam und Kopenhagen, in denen wir die Ankunft von einigen hundert Amerikanern angekündigt und die Konsulate gebeten hatten, sie irgendwie auf heimwärts fahrenden Schiffen unterzubringen. Ich rief das Fernamt an und bat das Fräulein, mir Kopenhagen zu geben. Sie versuchte es und rief mich wieder an: »Tut mir leid, Ferngespräche nach Kopenhagen sind nicht gestattet.« ..Geben Sie mir Rotterdam.«
»Bedaure — ebenfalls nicht erlaubt.«
Brüssel, Amsterdam, Den Haag — immer die gleiche Antwort. Es war ein scheußliches Gefühl, so völlig von der Welt draußen abgeschnitten zu sein. Ich rief die Botschaft in Berlin an, um den Zwischenfall zu berichten. Der Geschäftsträger, Alexander Kirk, war selbst am Apparat.
»Und ob ich das weiß«, seufzte er. »Seit sechs geschlagenen Stunden versuche ich, Washington zu bekommen.«
Eine kurze Weile später rief mich der junge Mann vom Telegrafenamt wieder an: »Ich dachte, es interessiere Sie vielleicht, daß Sie nach Rom telegrafieren können.«
Das gab mir eine Idee, und ich verhandelte noch einmal mit dem Telefonfräulein.
Innerhalb weniger Minuten hatte ich einen sehr schläfrigen Sekretär der römischen Botschaft am Apparat. Ich bat ihn, Rotterdam und Kopenhagen anzurufen und meine Nachrichten durchzugeben. Dann legte ich mich befriedigt schlafen.
Bald darauf waren alle Verbindungen wiederhergestellt, doch mußten wir deutsch sprechen. Eines Tages rief ich das Konsulat in Kopenhagen an und sprach mit einer amerikanischen Sekretärin, die etwa die Hälfte des dringend erforderlichen deutschen Vokabulars beherrschte. Ich konnte auch die Hälfte — aber die andere Hälfte. Irgendwie schafften wir es, uns dienstlich zu verständigen. Katastrophal wurde es erst, als ich — da wir auf eine Nachricht aus der Registratur warten mußten — eine höfliche Konversation mit der jungen Dame begann.
»Sind die Hummern in Kopenhagen immer noch so gut?« fragte ich.
»Ich bin kein Hummer«, fauchte sie böse zurück.
»Ich habe ja auch nicht gesagt, Sie wären ein Hummer. Ich habe nur gefragt, ob sie immer noch gut sind.«
»Natürlich bin ich gut. Was soll dieser ganze Blödsinn? In meinem Leben hat mir noch niemand solche Frechheiten gesagt!«
»Ich habe gefragt, ob die Hummern gut sind, zum Teufel! Wenn ich nächstesmal dort bin, werde ich Sie einladen, und wir probieren sie dann gemeinsam aus.«
»Mich ausprobieren...?« Eine Salve schöner alter Yankee-Schimpfwörter knatterte los. Ich wollte es gerade noch einmal versuchen, als sich plötzlich eine dritte Stimme in fließendem Englisch in die Unterhaltung mischte:
»Um Himmels willen, sprechen Sie englisch!«
Es war die Zensur.
Im Augenblick der englischen Kriegserklärung wurden der englische Konsul, sein Vizekonsul sowie zwei Sekretärinnen im ersten Hotel der Stadt interniert. Und mir wurde die Aufgabe zugewiesen, mich um sie und ihr Büro zu kümmern.
Eines Abends hatte ich mir im britischen Konsulat noch ein paar Papiere geholt und begann, beim Weggehen das Büro wie üblich zu versiegeln. Es war spät und schon ziemlich dunkel. Ich nahm also meinen Siegellack, ein Stückchen Schnur und unser amerikanisches Siegel und fing meine Arbeit munter an. Aber sehr bald kam ich zu der Einsicht, daß ein gewöhnlicher zweiarmiger Sterblicher nicht dazu bestimmt sein kann, mit heißem Siegellack auf einer vertikalen Fläche eine Schnur zu befestigen. Ich verbrannte mir die Finger. Ich verbrannte die Schnur. Ich verschmierte in weitem Umkreis den Boden mit tropfendem Siegellack. Alles klebte — nur die Schnur nicht.
Plötzlich fühlte ich eine energische Hand auf meiner Schulter. Ich sprang hoch und drehte mich erschrocken um. Im Halbdunkel hinter mir stand ein riesiger deutscher Polizist.
»Los, kommen Sie ganz ruhig mit, und stellen Sie sich bloß nicht dumm an. Kein Affentheater oder so’n Zeugs«, warnte er mich.
»Aber ich bin amerikanischer Vizekonsul und mit voller Berechtigung hier«, protestierte ich, »diese verdammte Tür muß wieder versiegelt werden…«
Den Polizisten erschütterten meine Beteuerungen nicht, und ich fügte mich schließlich.
»Na schön. Zuerst müssen Sie mir aber bei der Tür hier helfen. Ich kann sie auf keinen Fall unversiegelt zurücklassen. Da — halten Sie mal die Schnur flach, während ich den Siegellack heiß mache.«
Der Polizist hockte sich hin und drückte seinen Daumen gegen die Schnur. Ich erhitzte den Siegellack mit einem Streichholz. Das Streichholz ging aus, und ich konnte nichts mehr sehen. Ich zielte kurz und drückte den Lack, solange er noch heiß war, dahin, wo die Schnur sein mußte. Der Blaue schoß hoch und zerbiß einen Fluch. »Au — das war mein Daumen«, jammerte er vorwurfsvoll.
»Bedaure«, murmelte ich und versuchte es noch einmal. Schließlich hatten wir die Tür, Schnur, Lack und Siegel in das richtige Verhältnis zueinander gebracht, und alles war »in bester Butter«, wie man in Deutschland sagt.
»Was nun?« fragte ich den Polizisten.
»Kommen Sie mit zur Wache, und erzählen Sie Ihre Geschichte der Gestapo«, forderte er mich auf.
Auf der Wache konnte der Polizeihauptmann die Telefonnummer der Gestapo nicht finden. Ich benutzte die blendende Gelegenheit zu ein paar bissigen Seitenhieben auf eine Geheimpolizei, die so geheim war, daß niemand sie finden konnte. Zum Schluß wurden wir aber verbunden, und der Hauptmann holte sich einen Mordsanpfiff. Konsularbeamte seien unter keinen Umständen auf einer Wache zurückzuhalten, wurde ihm mitgeteilt, und außerdem setze der amerikanische Generalkonsul wegen seines vermißten Vizekonsuls bereits Himmel und Hölle in Bewegung.
In dem Augenblick, als ich gehen wollte, heulten zum erstenmal seit Kriegsbeginn die Sirenen auf.
Der Hauptmann befahl in dienstlichem Ton allen Anwesenden, in den Keller zu gehen.
»Ich gehe nicht« sagte ich stur.
Der Hauptmann sah mich bestürzt an.
»Aber ich bitte Sie, Herr Vizekonsul! Jeder muß in den Keller. Abgesehen davon haben wir einen sehr schönen Keller mit einem extra Gästeraum und einem ausgezeichneten Mosel. Und das Gesetz ist Ihnen doch bekannt! Jedermann muß Schutz suchen.«
»Und wenn ich mich weigere, werden Sie mich wieder festhalten, nehme ich an. Nicht? Und werden sich einen zweiten Anpfiff wegen Festnahme eines amerikanischen Konsularbeamten holen?«
Der Hauptmann zuckte verzweifelt die Schultern, als ich auf die Straße hinausmarschierte. Die letzten Fußgänger rannten wild in die Keller. Die Sirenen heulten wüst und schaurig. Ein Flugzeug brummte knapp haushoch über meinem Kopf. Ich wagte nicht aufzusehen, da ich fest überzeugt war, es sei ein britischer Bomber und ich selber würde in den nächsten Sekunden in Atome zerschmettert werden. Ich hastete durch die verlassenen Straßen und versuchte dabei krampfhaft, nicht ins Laufen zu geraten. Es hätte ja sein können, daß jemand aus einem Fenster den amerikanischen Vizekonsul erkannt und gesehen hätte, wie sehr er sich fürchtete. Hinter mir kam ein Polizeiauto gefahren. »Gehen Sie in den Keller!« rief eine herrische Stimme mir im Vorbeibrausen zu.
Endlich, endlich erreichte ich, halb irr vor Angst, das Konsulat. Der Generalkonsul erwartete mich an der Tür. »Nehmen Sie sich Zeit«, sagte er, »die Luftschutzzentrale hat soeben angerufen, es sei ein Probealarm.«
Im Hotel Atlantic, wo unser Generalkonsul wohnte und nun auch die Engländer interniert waren, war es ziemlich langweilig. Aber jeden Abend versammelten wir uns im Appartement unseres Generalkonsuls und lauschten den Ansichten der BBC über diesen seltsamen Krieg. Die Gestapo-Wachen unserer britischen Freunde wehrten sich anfangs dagegen, Dr. Goebbels’ Verbot, ausländische Sender zu hören, ignorieren zu müssen; jedoch überzeugten wir sie schnell davon, daß sie ihre Gefangenen auf keinen Fall während der Nachrichten unbewacht lassen dürften.
Zwei, drei Wochen nach Kriegsbeginn rief eines frühen Morgens Berlin an, um sich zu erkundigen, wer vom britischen Konsulat verhaftet und ins Gefängnis gekommen sei. Ich erwiderte, daß bis gestern nacht keiner der Engländer ins Gefängnis abgeführt worden sei. Alexander Kirk jedoch, der selber am Apparat war, beharrte auf seiner Kenntnis:
»Na schön, wenn sie wirklich noch im Hotel sind, so werden sie’s doch bald nicht mehr sein. Das deutsche Auswärtige Amt hat mir soeben mitgeteilt, daß sie zwei von ihnen als Geiseln für den deutschen Konsul und seine Sekretärin, die in Glasgow verhaftet wurden, festnehmen werden.»
Ich eilte zum Hotel, wo sich unsere vier Briten gerade durch die Hälfte eines herzhaften englischen Frühstücks gearbeitet hatten. Meine Nachrichten erschreckten sie, und es erhob sich gleich ein lebhaftes Rätselraten, wen von ihnen die Deutschen wohl aussuchen würden. Außer den beiden Konsuln waren zwei Sekretärinnen da: eine resolute Dreißigerin und die achtzehnjährige Tochter eines ortsansässigen englischen Kaufmanns, die bis zu ihrer Internierung noch nicht eine Nacht von daheim fortgewesen war. Wenige Minuten nach meinem Eintreffen erschienen zwei Beamte mit dem Polizeibefehl, den jüngeren Konsul und die Achtzehnjährige ins Gefängnis zu bringen. Wir wünschten ihnen alles Gute, und ich versprach, während des Tages nach ihnen zu sehen.
Erst am späten Nachmittag gelang es mir, ins Gefängnis zu kommen. Man konnte den Ort nicht gerade wohnlich nennen. Während ich im Besuchszimmer wartete, hörte ich das Rasseln von Eisengittern und den Widerhall eisenbeschlagener Stiefel auf dem Zement der Korridore. Zuerst brachten sie das junge Mädchen. Es stürzte auf mich zu, umklammerte meinen Hals und brach in hysterische Tränen aus. Sobald ich mich wieder etwas befreit hatte, begann ich, sie nach Möglichkeit zu trösten, und gab ihr einen Schlafanzug und ein Päckchen mit allerlei Kleinigkeiten, das ihre besorgte Mutter ihr schickte, und versprach, bald wiederzukommen. Gleich hinterher rief ich den Chef der Hamburger Polizei an. »Sie konnten zwischen den beiden Mädchen wählen«, sagte ich, »eines ist eine kräftige, energische Frau, die sich aus einem bißchen Gefängnis nicht viel macht. Das andere ist ein dummes kleines Ding, das die Auswirkungen einer Nacht im Gefängnis vermutlich nie ganz vergessen wird. Und natürlich mußten Sie hingehen und die Jüngere aussuchen.«
Der Polizeichef entschuldigte sich vielmals und sagte, er verstehe meinen Standpunkt vollkommen und werde sehen, was er tun könne. Ich eilte zurück ins Besuchszimmer und kam gerade zurecht, als der britische Konsul, von zwei Gestapo-Wachen flankiert, hereingeführt wurde. Der Gefängnisleiter, ein pensionierter Oberst, forderte uns auf, nur deutsch zu sprechen.
Ich teilte ihm mit, daß die Mahlzeiten für die beiden Engländer vom Hotel herübergeschickt werden würden und ich nur ein paar Kleinigkeiten mitgebracht hätte, die der Konsul vielleicht benötige. Als erstes entnahm ich meiner Aktentasche ein Röhrchen Schlaftabletten. Sofort erhob der Gefängnisleiter Einspruch.
»Ich werde sie an mich nehmen und dem Konsul jeden Abend eine Tablette geben.«
Der Konsul wurde wütend:
»Was glaubt ihr verdammten Deutschen denn, was wir Briten sind?« tobte er. »Meinen Sie, bloß weil Sie uns in ein stinkendes Gefängnis stecken, begehen wir Selbstmord? Ehe dieser Krieg vorbei ist, werden Sie sich zu töten versuchen, nicht ich!«
Der ehemalige Oberst war ziemlich beeindruckt und gestattete dem Konsul, die Pillen selber an sich zu nehmen. Ich machte mir diese Konzession zunutze und drängte weiter: »Hier habe ich noch eine Flasche schottischen Whisky. Engländer trinken jeden Abend um sechs einen Scotch mit Soda und etwas Eis darin. Eis und Soda lasse ich jedesmal vom Hotel herschicken, und Sie werden gewiß so liebenswürdig sein, das dem Konsul pünktlich um sechs Uhr nachmittags servieren zu lassen.«
Der Gefängnisdirektor runzelte die Stirn über meine Anmaßung, erklärte sich jedoch bereit, darauf zu achten, daß der Konsul jeden Abend zur gewohnten Zeit seinen Whisky-Soda bekam.
Diese neue Zusage machte mich neugierig, was ich wohl sonst noch herausschinden konnte.
..Und dann gibt es noch etwas«, fuhr ich unschuldig fort, »eine halbe Stunde vor dem Dinner, das um acht Uhr abends serviert wird, nimmt der Engländer immer einen Cocktail — meist Martini. Ich habe einen Shaker und die Ingredienzien mitgebracht, das Eis wird vom Hotel geschickt.« Ich griff in die Aktenmappe und zog eine Flasche Gin und eine Flasche Wermut heraus. Darauf wandte ich mich abermals an den Gefängnisdirektor:
»Sie nehmen also vier Teile Gin und ein Teil Wermut, schütten alles in den Shaker und
Aber ich konnte sehen, daß ich die Grenze erreicht hatte. Der Direktor explodierte mit einem Knall: »Himmelherrgott! Verdammt und zugenäht! Ich lasse ihm seine Schlafpillen und seinen Whisky und Soda. Soll er in drei Teufels Namen auch noch Gin und Wermut haben — aber ich will doch verflucht sein, wenn ich hingehen und für meine Gefangenen auch noch Cocktails mixen soll!«
Kurz darauf gab London nach und entließ den deutschen Konsul in Glasgow. Wir konnten den britischen Konsul und seine Sekretärin im Triumph ins Hotel Atlantic zurückholen.